ES
BEDARF ANSCHAULICHER SINNBILDER UND
GLEICHNISSE, UM VERSTANDESBEGRIFFE KLARZUMACHEN
Der
Angelpunkt für das Verständnis der Fragen, die
wir bereits behandelt haben oder noch besprechen werden,
um den Kern der Probleme deutlich zu machen, ist der Umstand,
daß es zwei Arten menschlicher Erkenntnis gibt.
Die eine ist die Erkenntnis der durch die Sinne wahrnehmbaren
Dinge, das heißt der Erscheinungen, die Auge, Ohr,
Geruchs-, Geschmacks- oder Tastsinn erfassen können
und die gegenständlich oder konkret genannt werden.
So wird die Sonne gegenständlich genannt, weil sie
gesehen werden kann. Ebenso sind Töne erkennbar,
weil das Ohr sie hört. Düfte sind wahrnehmbar,
weil sie eingeatmet werden können und der Geruchssinn
sie bemerkt. Speisen sind erkennbar, weil der Geschmackssinn
sie als süß, sauer oder salzig empfindet. Hitze
und Kälte sind faßbar, weil der Fühlsinn
sie wahrnimmt. All dies nennt man sinnlich wahrnehmbare
Wirklichkeit.
Die
andere Art menschlicher Erkenntnis ist intelligibel -
das heißt, sie ist eine Wirklichkeit der Geisteskraft,
ist nicht an äußere Form und Raum gebunden
und nicht durch die Sinne wahrnehmbar. Zum Beispiel ist
die Kraft des Verstandes nicht körperhaft; keine
der inneren menschlichen Fähigkeiten ist ein Gegenstand,
im Gegenteil, sie sind intelligible Wirklichkeit. So ist
die Liebe eine geistige und keine gegenständliche
Wirklichkeit, denn das Ohr hört diese Wirklichkeit
nicht, das Auge sieht sie nicht, der Geruchssinn bemerkt
sie nicht, der Geschmack nimmt sie nicht wahr und der
Tastsinn fühlt sie nicht. Auch die Äthersubstanz,
deren Kräfte in der Physik Wärme, Licht, Elektrizität
und Magnetismus genannt werden, ist eine intelligible
Wirklichkeit und kann nicht durch die Sinne wahrgenommen
werden. Ebenso ist auch die Natur in ihrem innersten Wesen
eine intelligible und sinnlich nicht erkennbare Wirklichkeit,
desgleichen der menschliche Geist.
Wenn
man diese intelligiblen Wirklichkeiten klarmachen will,
muß man sie durch anschauliche Sinnbilder ausdrücken,
weil es im äußeren Sein nichts außer
Stofflichem gibt. Um also die Wirklichkeit des Geistes,
seine Seins- und Erscheinungsweise zu erklären, bedarf
es der Form sinnlich wahrnehmbarer Dinge, denn in der
Welt des Stoffes ist nur Gegenständliches vorhanden.
Zum Beispiel gehören Traurigkeit und Freude zu den
intelligiblen Gegebenheiten. Wenn man diese unkörperlichen
Zustände beschreiben will, sagt man: „Mein
Herz ist schwer“ oder „Mein Herz ist leicht“,
obwohl sich das Gewicht des menschlichen Herzens dabei
nicht ändert. Es ist ein seelischer oder geistiger
Zustand, den zu veranschaulichen man zu sinnlich wahrnehmbaren
Bildern greifen muß. Ein anderes Beispiel: Man sagt:
„Dieser Mensch ist weit fortgeschritten“,
obgleich er an Ort und Stelle verbleibt. Oder: „Jener
hat eine hohe Stellung“, obwohl er wie jeder andere
auf der Erde einhergeht. Diese Höhe und dieser Fortschritt
bezeichnen geistige Zustände und intelligible Wirklichkeiten;
sie klarzumachen, muß man seine Zuflucht zu anschaulichen
Formen nehmen, weil es in der Welt der Erscheinung nur
sinnlich Greifbares gibt.
So
ist das Sinnbild des Wissens Licht und der Unwissenheit
Dunkelheit. Aber ist Wissen sichtbares Licht und Unwissenheit
sinnlich wahrnehmbare Dunkelheit? Nein, sie sind nur Symbole
für intelligible Gegebenheiten. Wenn man sie begrifflich
darstellen will, nennt man das Wissen Licht und die Unwissenheit
Dunkelheit. Man sagt auch: „Mein Gemüt war
düster, dann wurde es licht.“ Das Licht des
Wissens und die Dunkelheit der Unwissenheit sind intelligible
und nicht stoffliche Wirklichkeiten, aber wenn wir in
der stofflichen Welt nach Erklärungen suchen, müssen
wir ihnen eine gegenständliche Form geben.
Es
ist also augenfällig, daß die Taube, die auf
Christus herabkam, keine körperliche Taube, sondern
ein geistiger Zustand war, der, um verstanden zu werden,
durch ein anschauliches Bild dargestellt wurde. So heißt
es im Alten Testament, daß Gott in einer Feuersäule
erschien. Damit ist nicht die materielle Form gemeint,
sondern es ist eine intelligible Wirklichkeit, die durch
ein faßbares Gleichnis ausgedrückt wurde.
Christus
sagte: „Der Vater ist im Sohn und der Sohn ist im
Vater.“ War Christus im inneren Gottes oder Gott
im inneren Christi? Nein, bei Gott! Dies ist vielmehr
ein intelligibler Zustand, der durch eine den Sinnen verständliche
Umschreibung erklärt wurde.
Wir
wollen nun Bahá'u'lláhs Worte auslegen,
wenn Er sagt: „O König, wahrlich, ich war wie
jeder Mensch und schlief auf Meinem Lager. Da wehte der
Odem des Allerherrlichsten über Mich hin und schenkte
Mir die Erkenntnis dessen, was war. Dies kommt nicht von
Mir, sondern von Ihm, dem Herrlichen, dem Weisen.“¹
Dies ist der Vorgang der Offenbarung; es ist keine körperliche,
sondern geistige Wirklichkeit, frei und losgelöst
von der Zeit, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft;
es ist eine Erklärung, ein Gleichnis, ein bildlicher
Ausdruck, und darf nicht nach dem Buchstaben ausgelegt
werden; es ist ein Vorgang, der vom Menschen nicht begriffen
werden kann. Schlafen und Wachen bedeuten den Übergang
von einem Bewußtseinszustand in einen anderen. Schlaf
ist die Seinsweise der Ruhe, Wachsein die der Tätigkeit;
Schlaf ist der Zustand des Schweigens, Wachsein der des
Sprechens; Schlaf bedeutet die Verfassung des Verborgenseins,
Wachsein die des Offenbarwerdens.
Im
Persischen und Arabischen wird zum Beispiel die Redewendung
gebraucht, daß die Erde schlief, der Frühling
kam und sie erweckte; oder die Erde war tot, und der Frühling
kam und belebte sie wieder. Diese Äußerungen
sind bildliche Ausdrücke, Gleichnisse, symbolische
Erklärungen in der Welt der Bedeutungen.
Kurz,
die heiligen Offenbarer waren und werden immer leuchtende
Wirklichkeit sein; weder wandeln noch ändern sie
sich in ihrem Wesen. Ehe sie ihre Sendung erklären,
sind sie stumm und still wie ein Schläfer, und nach
ihrer Offenbarung sprechen sie und sind erleuchtet wie
einer, der erwacht ist.
¹
Aus einem Brief an den Sháh von Persien.
Das
war ein Auszug aus dem Buch "Beantwortete
Fragen" von Abdu'l-Baha,
welches Sie hier kostenlos
downloaden oder hier
bestellen können.
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